Die aktuelle Situation der Corona Pandemie und der wiederholten Lockdowns erhöht das Risiko für Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung massiv, warnt die Österreichische Gesellschaft für Kinderschutz Medizin (ÖGKiM). Weltweiten Berichten zufolge führen die Lockdown-Maßnahmen mit Zuhausebleiben, Vermeiden sozialer Kontakte, wirtschaftlicher Unsicherheit und Stress in den Familien bei Kindern und Jugendlichen zu einem hohen Risiko für psychiatrische Erkrankungen, psychosoziale Störungen (Ravens-Sieberer U 2021) sowie Gewalt und Vernachlässigung (Teo S and Griffiths G. 2020, Cohen R and Bosk E 2020). www.oegkim.at
Fehlende Kontakte zu Lehr- und Betreuungspersonal – sinkende Gefährdungsmeldungen
Die Zahlen zu Meldungen von Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung reichen von einer 20%igen Zunahme (z.B. in Frankreich, Innocence In Danger 2020) bis zu einer deutlichen Reduktion (z.B. 42% in Dänemark, Scheel et al. 2020), wobei hier eine direkte Relation zu geschlossenen Kindergärten, Schulen und Vereinen gesehen werden kann. So kommen etwa 25% aller Gefährdungsmeldungen von Schulen und Kindertagesheimen (24% – Jahresbericht MAG ELF 2019; 20% USA, Chandan et al 2020). Somit reflektieren die Zahlen vermutlich keine Reduktion an Kindeswohlgefährdung, sondern spiegeln fehlende Kontakte zu Lehr- und Betreuungspersonal wider und als Konsequenz einen Rückgang an Meldungen (Thomas EY et al 2020).
Peterman et al (2020) beschreiben als Pandemie-bedingte Risikofaktoren für Gewalt in der Familie wirtschaftliche und finanzielle Ängste, soziale Isolation, Krisen und beschränkte Möglichkeiten, dem häuslichen Milieu zu entkommen. Seit langem ist der Zusammenhang zwischen Misshandlung und Missbrauch von Kindern mit Naturkatastrophen, Armut, Arbeitslosigkeit, körperlichen und psychiatrischen Erkrankungen der Eltern bekannt (Martinjevich P et al 2020). Die genannten Risikofaktoren prägen die aktuelle COVID-19 Pandemie und belasten alle Bevölkerungsschichten, ganze Länder und Kontinente.
Die Anforderungen an Familien sind derzeit enorm, da Betreuung und Unterricht für die Kinder nach Hause verlegt wurden, Eltern entweder zur Arbeit müssen, in Home-Office sind oder sogar ihre Arbeit verloren haben. Nun kann es nicht immer Gelingen, dass sich alle zusammen in der häuslichen Umgebung abstimmen und unterstützen, mit dem möglichen Resultat von Scheitern, Verzweiflung und Gewalt.
Schulen und Kindergärten wichtig als soziale Orte
Die Bedeutung der Schulen, Kindergärten, Betreuungseinrichtungen und Sportvereine beschränkt sich bei Weitem nicht nur auf Lernen und Testen. Die vielen Begegnungen schulen die Interaktionsfähigkeit und soziale Kompetenz als wichtige Faktoren für das Wohlbefinden von Kindern. Lehrkräfte und Betreuungspersonal lernen im Laufe eines Schuljahres ihre Schülerinnen und Schüler bzw. die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen kennen, fördern sie in ihrer Entwicklung und erkennen Sorgen und Nöte. Vor allem jene Kinder und Jugendlichen mit einem hohen Potenzial, alleine nicht zurecht zu kommen, überfordert zu sein, wegzudriften und Gefahr zu laufen, in Abhängigkeiten zu geraten oder physischer bzw. psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein, müssen und können erkannt, unterstützt und behandelt werden.
Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen ebenso wichtig wie Schulstoff
Distance Learning hat die Schule verändert. Das primäre Ziel war es, den Schulstoff über Videomeetings und Arbeitsaufträge zu bewältigen und abzuprüfen. Doch noch wichtiger wäre es, von Beginn an das Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen zu erfragen und zu protokollieren, ihre Ängste und Schuldgefühle aufzunehmen und ihren Tagesablauf zu erfassen. Weiters sollten Lehrer und Betreuungspersonal ausgebildet sein, Risikofaktoren für Benachteiligung und Kindeswohlgefährdung rasch zu erkennen, gezielte Fragen über den Umgang und die Interaktion der Familienmitglieder zu stellen, um bei Hinweisen auf Gewalt und Vernachlässigung aktiv zu werden. (Thomas EY et al 2020)
Verursacht durch die Ungewissheit über die Folgen der Pandemie für die eigene Familie und damit einhergehenden Veränderungen im Alltag, wie das Fehlen von Familienmitgliedern (Großeltern) und Freunden, der Schulklasse, von Freizeitaktivitäten, oder hinsichtlich des Erreichens wichtiger Meilensteine und der Stellung in der Gemeinschaft können sich psychische Erkrankungen manifestieren (Griffith AK 2020).
„Lieber mit Maske in der Schule, als alleine zuhause“
Dies sind alles eindeutige Gründe, weshalb Kinder und Jugendliche in eine geordnete Tagesstruktur in den Schulen, Betreuungseinrichtungen und Freizeitaktivitäten zurückkehren sollten. Nur so können ein Verlust an Wissen und Lernstoff sowie sozialen Kompetenzen verhindert, Ängste über eine ungewisse Zukunft mit weitreichenden wirtschaftlichen und sozioökonomischen Folgen wahrgenommen und der jungen Generation ausreichend Sicherheit und Schutz geboten werden (Thomas EY et al 2020). Es wäre falsch nun auf reines Nachholen von Lernstoff und Prüfungen zu setzen, vielmehr sollte ein offener Unterricht, mit der Möglichkeit sich wieder zu integrieren und in der Klasse zurechtzufinden, ermöglicht werden. Die lange Zeit im Lockdown muss aufgearbeitet werden, die Erwartungen müssen entsprechend der Situation und den Möglichkeiten der Schülerinnen und Schüler angepasst werden, um individuelle Lernziele auszuarbeiten, klar zu kommunizieren und erst dann einzufordern.
Die Einhaltung der Hygiene- und Schutzmaßnahmen sowie der regelmäßigen Covid-19 Testungen sind als fixer Bestandteil einer offenen Schule zu sehen. Den Kindern und Jugendlichen ist die Notwendigkeit der Maßnahmen klar und diese werden auch überwiegend gerne angenommen. Die Schülerinnen und Schüler wollen selbst „lieber mit Maske in der Schule, als alleine zuhause“ sein. Der Effekt der Masken zur Minimierung der Viruslast und deren gute Verträglichkeit wird mittlerweile auch durch Literatur bestätigt (Robert-Koch Institut 2020; Huppertz HK et al 2021).
Kinder und Jugendliche müssen gehört werden
Schlussfolgernd ist festzuhalten, dass wir auf unsere Kinder, Jugendlichen und Studierenden hören und sie in Entscheidungen, die sie betreffen, einbinden müssen. Wie müssen ihnen vermitteln, dass mit all den Regeln ihre Bedürfnisse, ihre Entwicklung und ihre Zukunft ebenso im Mittelpunkt stehen und nicht vergessen werden, wie jene von Erwachsenen. Die Kinder und Jugendlichen sind unsere Zukunft, die wir als Gesellschaft brauchen. Sie alleine sind die Garantie für Entwicklung, Erfolg und Wohlstand in den kommenden Jahren. Alles was wir in unsere Kinder und Jugendlichen investieren, rechnet sich um ein Vielfaches.
Über die ÖGKiM
Die Österreichische Gesellschaft für Kinderschutz Medizin (ÖGKiM) ist die Dachorganisation der österreichischen Kinderschutzgruppen und sieht ihre zentrale Aufgabe darin, Gewalt und Unterdrückung von Kindern und Jugendlichen zu erkennen, zu bekämpfen und langfristig zu verhindern. www.oegkim.at
Das Präsidium der Österreichischen Gesellschaft für Kinderschutz Medizin (ÖGKiM)
Präsidentin: Univ. Prof. Dr. Susanne Greber-Platzer, MBA
Leiterin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, MedUni Wien
Leiterin der Klinischen Abteilung für Pädiatrische Pulmologie, Allergologie und Endokrinologie Leiterin der Kinderschutzgruppe der Univ. Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde
Leiterin der Forensischen Kinder- und Jugenduntersuchungsstelle (FOKUS)
Vizepräsidentin: Ass.-Prof. Mag. Dr. Sabine Völkl-Kernstock
Klinische- und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, MedUni Wien
Vizepräsident: Prim. Dr. Simon Kargl
Primarius der Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie am Kepler Universitätsklinikum Linz
Geschäftsführerin: Dr. Maria Kletečka-Pulker
Geschäftsführerin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Recht in der Medizin
Präsidiumsmitglied: Univ. Prof. Dr. Leonhard Thun-Hohenstein
Vorstand und Primararzt a.D. der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Paracelsus Medizinische Privatuniversität, SALK, Salzburg
Präsidiumsmitglied: DGKP Johanna Horn, MBA
Präsidentin des BKKÖ Berufsverband Kinderkrankenpflege Österreich
Präsidiumsmitglied: Mag (FH). Elisabeth Leeb, BA
Sozialarbeiterin am Klinikum Wels-Grieskirchen
Mitglied wissenschaftlicher Beirat: Univ. Prof. Dr. Paul Plener, MHBA
Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, MedUni Wien
Literatur:
- JS Chandan, et al 2020 „COVID-19: a public health approach to manage domestic violence is needed“. Lancet Public Health 5: e309
- Annette K. Griffith 2020 „Parental Burnout and Child Maltreatment during the COVID-19 Pandemic“. J Family Violence
- Hans-Iko Huppertz et al. 2021 „Verwendung von Masken bei Kindern zur Verhinderung der Infektion mit SARS-CoV-2“. Monatsschrift Kinderheilkunde 169:52–56
- Polina Martinjevich et al 2020 „Physical child abuse demands increased awareness during health and socioeconomic crises like COVID-19“. Acta Orthopaedica 92 (5): 527-533
- A Peterman et al 2020 „Pandemics and violence against women and children“. Center for Goobal Development, Washington DC, USA
- Robert Koch-Institut (2020) Epidemiologisches Bulletin19/2020. https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/19_20.pdf?__blob=publicationFile
- Rachel I Silliman Cohen, Emily Adlin Bosk 2020 „Vulnerable Youth and the COVID 19 Pandemic“. Pediatrics 146(1):e20201306
- Steven SS Teo, Griffiths Glenys „Child protection in the time of COVID-19“. 2020 J Paed Child Health 56: 838-40
- Elisabeth York Thomas, et al 2020 „ Spotlight on child abuse and neglect response in the time of COVID-19“. Lancet Public Health 5: e371
- Ulrike Ravens-Siebereret al. 2021 “Impact of the COVID-19 pandemic on quality of life and mental health in children and adolescents in Germany”. Eur Child Adolesc Psychiatry 25; 1-11
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